Von Petra Grimm-Benne und Susi Möbbeck
Das Corona-Virus und die Maßnahmen zur Reduzierung des Infektionsgeschehens bedeuten eine enorme Belastung nicht nur für Wirtschaft und Gesundheitswesen, sondern auch für unser Zusammenleben als Gesellschaft. Besonders belastend sind die weitgehende Schließung der öffentlichen Orte des Zusammenlebens und die Kontaktbeschränkungen für Kinder.
So sind seit dem 16. März 2020 Kitas, Horte und Schulen für den Regelbetrieb geschlossen. Um die Infektionsgefahren durch Menschenansammlungen zu verhindern, sind Spielplätze, Fußball- und Bolzplätze genauso geschlossen wie Kinos und Schwimmbäder. Es finden keine Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit, von soziokulturellen Zentren, Bürgerhäusern, Jugend- und Familienbildung statt.
Hauptort des Lernens, Spielens, der Gespräche und der Freizeitgestaltung ist derzeit zu Hause. Der Face-to-Face-Kontakt beschränkt sich weitgehend auf die Familie. Freunde und Bekannte werden kontaktiert per Telefon oder auf Social Media. Wer an seinen Arbeitsplatz darf, hat das Privileg direkter Sozialkontakte. Aber insbesondere Kinder und Jugendliche erleben eine starke Einschränkung ihrer Kontaktmöglichkeiten. Und das gilt nicht nur für die gleichaltrigen Freunde, auch das Distanzgebot zu den Großeltern belastet Kinder, die sich so auch noch mit der Sorge tragen, sie selbst könnten ihre Großeltern gefährden.
Natürlich bietet die veränderte Situation Gelegenheit zum intensiven Zusammensein in der Familie und damit neue Chancen, aber die Gefahren der Isolation oder gar der Eskalation von Konflikten sind nicht von der Hand zu weisen. Für Eltern, die die Herausforderungen von Home Office und Home Schooling gleichermaßen bewältigen müssen und dabei regelmäßig das Gefühl haben, weder dem einen noch dem anderen gerecht zu werden, entsteht neuer, ungekannter Stress. Kinder, die wenig elterliche Unterstützung erfahren oder denen die technischen Möglichkeiten fehlen, werden kaum den häuslichen Unterrichtsstoff bewältigen, Bildungsungerechtigkeit wird verstärkt. Und was es mit Kindern macht, die bislang unbeschwert mit Freunden toben konnten und nun in jedem sozialen Kontakt die Gefahr der Ansteckung sehen, wird uns wahrscheinlich noch sehr lange beschäftigen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und unter den Bedingungen des Lockdown fällt uns auf, wie bedeutsam die Institutionen sozialen Lebens für uns sind: Bildungseinrichtungen, Sport, Kulturveranstaltungen, Bürgerhäuser, Vereine, Kneipen und Restaurants, Parks, Spielplätze, Schwimmbäder, Tageseinrichtungen. All das, was verschiedentlich als „Gedöns“, als „konsumtiv“ oder auch nur als „freiwillige Aufgabe“ und damit faktisch als zweitrangig klassifiziert wurde, rückt plötzlich ganz nach vorne auf der Werte- und Bedürfnisskala.
Kurzum: Die zur Pandemiebekämpfung notwendigen Kontaktbeschränkungen und Schließungen bergen große gesellschaftliche Risiken und müssen deshalb mit allergrößter Vorsicht, aber so schnell wie möglich schrittweise zurückgefahren werden, damit unser Zusammenleben nicht dauerhaft leidet.
Kinder brauchen Kitas und Schulen
In „Vor-Corona-Zeiten“ besuchten ca. 150.600 Kinder eine Kindertageseinrichtung in Sachsen-Anhalt. Die Betreuungsquote bei Drei- bis Sechsjährigen lag 2019 in Sachsen-Anhalt bei fast 94 Prozent – ein bundesweiter Höchstwert. Mit guten Kitas sorgen wir dafür, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf funktioniert und frühkindliche Bildung gestaltet wird. Kita und Hort sind Lern- und Lebensorte, in denen Kinder sich entwickeln, Beziehungen aufbauen und spielerisch lernen. Wie wichtig dieser Lernort ist, spüren im Moment viele Kinder wie auch Eltern sehr deutlich.
Durch die Schließung der Einrichtungen sollte die Verbreitung des Virus reduziert werden. Das ist gelungen und darf nicht verspielt werden. Die schrittweise Öffnung muss den Gesundheits- und Infektionsschutz beachten. Eine Notbetreuung für die Eltern, die auch im Shutdown arbeiten müssen, damit die Gesellschaft weiter funktioniert, war von Anfang an gegeben. Nutzten anfangs nur rund drei Prozent der Eltern diese Möglichkeit, so ist der Anteil der betreuten Kinder mit der 4. Eindämmungs-Verordnung bereits auf gut elf Prozent aufgewachsen. Darin spiegelt sich neben der Erweiterung der Zahl der Anspruchsberechtigten auch der zunehmende Druck, den Eltern verspüren, die die häusliche Betreuung bislang noch organisieren konnten, nun aber an die Grenzen des individuell Machbaren stoßen. Da gerade Alleinerziehende diesen Druck ganz besonders spüren, streben wir an, ihnen mit der nächsten Verordnung den Anspruch auf Notbetreuung grundsätzlich zu ermöglichen.
Die JugendministerInnen der Länder haben sich auf einen gemeinsamen Rahmen für die stufenweise Wiederöffnung der Kindereinrichtungen verständigt. Dabei sollen sowohl die Betreuungsbedarfe berufstätiger Eltern, besonders die von alleinerziehenden Eltern und solchen mit Beeinträchtigungen, berücksichtigt werden als auch die Bedürfnisse von Kindern, die besonders auf das Leben und Lernen in der Kita angewiesen sind (Kinder aus stationären Einrichtungen, mit besonderen Förderbedarfen, in beengten Wohnverhältnissen, aus Kinderschutzgründen).
Unter strikter Beachtung von Gesundheits- und Infektionsschutz sollen die Einrichtungen so schrittweise von der Notbetreuung zur erweiterten Notbetreuung und in den eingeschränkten Regelbetrieb übergehen. Erst wenn die Pandemie erfolgreich bewältigt wurde, kann von einem vollständigen Übergang in den normalen Regelbetrieb gesprochen werden. Für den zunehmenden Betrieb der Einrichtungen ist die Hygiene ebenso wichtig wie die Nachverfolgbarkeit von Kontakten. Es wird gesetzt auf stabile Bezugsgruppen und Vermeidung von Kontakten zwischen den Gruppen. So bleiben die Kontakte überschaubar. Insbesondere Fachkräfte aus den Risikogruppen sind zu schützen.
Mit der Schließung der Spielplätze steht den Kindern derzeit eine wichtige Spiel- und Freizeitmöglichkeit nicht mehr zur Verfügung. Die für Kinder- und Jugendhilfe zuständigen Ressortchefs der Länder und des Bundes setzen sich dafür ein, die Spielplätze wieder zu öffnen. Voraussetzung wird bei diesem für Eltern entlastenden Schritt sein, dass sich das Infektionsgeschehen nicht dramatisch verändert und eine Beaufsichtigung auf dem Spielplatz sichergestellt werden kann.
Während zu Beginn der Pandemie davon ausgegangen wurde, dass Kinder zu den Hauptträgern des Virus gehören, liegen zwischenzeitlich erste internationale Studien vor, die nicht nur feststellen, dass Kinder seltener erkranken, sondern auch in Frage stellen, dass sie stark zur Verbreitung beitragen. Die Studien sind unbedingt schnell durch Untersuchungen in Deutschland zu überprüfen, da davon die Spielräume bei der Wiederöffnung von Kitas, Schulen und Spielplätze abhängen.
Familien finanziell entlasten
Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise treffen schon jetzt viele Familien mit besonderer Härte. Die Entlastung von Familien und die sozialstaatliche Unterstützung muss oberste Priorität haben, um finanzielle Einbußen auszugleichen, Risiken abzufedern und existentielle Ängste zu mindern.
Und da ist schon einiges passiert: Erwerbstätige Eltern haben sechs Wochen lang Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 67 Prozent ihres Einkommens, wenn sie im Zuge der Kita- und Schulschließungen ihrem Job nicht nachgehen konnten. Außerdem wurde der Zugang zur Grundsicherung erleichtert. So werden nicht nur Folgeanträge unbürokratisch für sechs Monate weiterbewilligt und die Ausgaben für Wohnung und Heizung in tatsächlicher Höhe anerkannt; es wird auch auf die Vermögensprüfung verzichtet. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil haben zudem, um kurzfristige Einkommenseinbußen abzufedern, den Kinderzuschlag (KiZ) zu einem „Notfall-KiZ“ erweitert. Das Kurzarbeitergeld erfüllt für sehr viele Eltern eine Brückenfunktion, bis sie ihren Beruf wieder vollumfänglich aufnehmen können. Das Soforthilfeprogramm für Solo-Selbständige, Angehörige freier Berufe und kleinere Unternehmen ist ein weiterer wichtiger Schritt zur finanziellen Unterstützung.
Auf Landesebene haben wir entschieden, den Gemeinden zu empeohlen, für den Monat April keine Elternbeiträge in Kitas und Horten zu erheben und ihnen dadurch entstehende Einnahmeausfälle zu erstatten. Da die Corona-Krise noch nicht überwunden ist und die Kindertageseinrichtungen noch nicht allgemein geöffnet sind, wollen wir den Erstattungszeitraum auch auf den Monat Mai ausdehnen. Dabei ist es unerheblich, ob eine Notbetreuung in Anspruch genommen wurde oder nicht. Soweit auch über den Monat Mai hinaus Eltern ihren Betreuungsanspruch nicht realisieren können, werden wir uns dafür einsetzen, dass das Land weiter zur Entlastung beiträgt.
Soziale Belastungen für Familien abfedern
Wenn Kinder zu Hause unterrichtet werden, sie ihre sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen einschränken müssen und auf das Austoben beim Fußballtraining zu verzichten haben, bleiben Spannungen nicht aus. Gerade in diesen Krisenzeiten, in denen zudem die wirtschaftliche Existenz von Eltern auf dem Spiel steht, kann es zu Konflikten kommen. Hier dürfen wir nicht wegsehen. Auch in Krisensituationen bleiben die Unterstützungs- und Beratungsangebote für Menschen erreichbar: Die Familienhilfe, die Nummer gegen Kummer und das Elterntelefon sind hier einige Beispiele.
Das Zusammenrücken zu Hause bedeutet in einigen Fällen leider auch eine erhöhte Gefahr für das Kindeswohl und die körperliche Unversehrtheit. Damit Hilfesuchende wissen, wo ihnen geholfen werden kann, müssen wir die Angebote zum Beispiel zur Beratung für Opfer sexualisierter Gewalt oder das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ noch stärker bewerben. Familienhilfe, offene Kinder- und Jugendarbeit und Beratungsangebote, sie alle werden in der Krise gebraucht. Neben telefonischen und Video-Beratungen werden auch neue Formen wie Beratungsgespräche über den Gartenzaun oder auf kurzen Spaziergängen praktiziert. Die Beratungsdienste unterstützen sich gegenseitig. Wo immer das Land diese Angebote fördert, werden sie weiter finanziert und angepasste, flexible Möglichkeiten zur Umsetzung vereinbart. Denn in der Krise sind sie noch dringlicher als sonst.
Solidarisch die Krise meistern – Blick nach vorn
Noch sind wir mitten in der Bekämpfung der Pandemie. Die kommenden Monate werden für Familien davon geprägt sein, dass das öffentliche Leben nur schrittweise wieder geöffnet wird. In Kitas und Schulen werden Hygiene, Abstand und Kontaktreduzierung prägend sein.
Wollen wir diese Phase solidarisch meistern und verhindern, dass die Kinder und Jugendlichen zurückbleiben, die auch vorher schon schlechtere Bildungschancen hatten, dann gilt es dafür Prioritäten zu setzen: Lerninhalte müssen wiederholt und gemeinsam bearbeitet werden. Das wird auch das kommende Schuljahr prägen. Freiwillige ergänzende Angebote, zum Beispiel in Kleingruppen, können helfen, um diejenigen mitzunehmen, die nach dem Home Schooling sonst den Anschluss verlieren. Dazu können auch Schulsozialarbeit und offene Kinder- und Jugendarbeit beitragen.
Der Ausbruch des Corona-Virus in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt hat deutlich gemacht, wie gefährlich ein beengtes Zusammenleben in Gemeinschaftsunterkünften ist. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Deshalb braucht es nach der Quarantänezeit ein neues Unterbringungskonzept mit kleineren Wohneinheiten, kürzerer Verweildauer und gesünderen Wohnverhältnissen – eine räumliche Entzerrung sichert den Schutz vor Infektionen, verbessert Integrationschancen und ermöglicht Asylsuchenden ein selbständiges Familienleben.
In vielen Fällen hat die Krise die Familien zusammengeschweißt und die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gefestigt. Auch wenn wir uns nach unserer „alten Normalität“ sehnen, wird die Krise ganz sicher auch im familiären Zusammenleben einige nachhaltige Veränderungen hervorbringen, und manches, was wir schon immer beklagt haben, wird sich jetzt endlich ändern. Selbst wenn manche romantische Vorstellung vom Home Office nach dem Praxistest der Vergangenheit angehört: Die Möglichkeit des Wechselns zwischen Phasen der Arbeit im Büro und zu Hause wird künftig selbstverständlich werden. Deshalb ist es gut, wenn das Recht auf Home Office von Hubertus Heil jetzt ordentlich geregelt wird und damit die Chancen zur Vereinbarung von Beruf und Familie verbessert und flexibler möglich werden.